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Helga M. Nowak — eine deutsch-isländische Autorin im Spiegel ihrer Zeit

Welche Beziehung bestand zwischen der isländischen Staatsbürgerin María Karlsdóttir und dem Institut für Literatur Johannes R. Becher (IfL) in Leipzig, welches Zeit seines Bestehens die einzige universitäre Ausbildungsstätte für Schriftsteller im deutschsprachigen Raum gewesen ist? Wer war diese Frau, die zeitweise u.a. auch Maria Vigfússon hieß? Und welche Rolle spielte das Ministerium für Staatssicherheit der DDR (MfS) dabei?

Am 8. September 1935 ist in Berlin ein Mädchen geboren worden, das den Namen Helga Maria erhielt und von ihren Eltern sogleich zur Adoption freigegeben wurde. Die Kinderjahre während der Zeit des Nationalsozialismus verbrachte es bei seinen Adoptiveltern Karl und Charlotte Nowak. Helga Maria Nowak besuchte ab 1941 die Volksschule, zwischen 1950 und 1954 die Oberschule[1] und trat am Todestag Josef Stalins in die SED ein.[2] Nach dem Abitur zog sie nach Leipzig und begann dort ein Studium der Journalistik. Während dieser sozialistischen Ausbildung wurde Nowak zur „dóttur hins nýja þjóðskipulags í Austur-Þýskalandi“[3] – Tochter der neuen Gesellschaftsordnung in der DDR – doch geriet sie zunehmend in einen Konflikt mit dem Sozialismus, der dazu führte, dass sie 1957 aus politischen Gründen exmatrikuliert wurde.

Mit ihrem damaligen Verlobten Eysteinn Þorvaldsson (23.6.1932–8.9.2020[4]) beging Nowak Ende 1957 sog. Republikflucht, zog aus der DDR nach Island, wo sie dann verschiedenen Hilfsarbeiten, so beispielsweise in einer fischverarbeitenden Fabrik sowie in einer Wollwarenweberei, nachging. Gelegentlich findet sich die Mutmaßung, dass Helga M. Nowak und Eysteinn Þorvaldsson ein gemeinsames Kind gehabt haben sollen.[5] Diese Behauptung lässt sich aber nicht bestätigen.[6]

Schließlich kam Nowak 1958 wieder in die DDR zurück. Hier lernte sie auch ihren späteren Ehemann, ebenfalls einen Isländer, kennen.[7] Am 1. Juli 1960 heiratete sie Þór Vigfússon (2.4.1936–5.5.2013[8]) in der DDR.[9] 1961 – in Berlin war gerade die Mauer gebaut worden – verzog das Paar nach Island. Dort gab sie ihr erstes Buch im Selbstverlag heraus.[10] Außerdem erlernte sie die isländische Sprache. In der DDR wurden ihre Werke übrigens nicht veröffentlicht.[11] Ihre einzige Tochter wurde 1962 in der Ehe mit Þór Vigfússon geboren.[12]

Im Jahre 1965 kehrte Helga Maria Vigfússon abermals in die DDR zurück. In Leipzig nahm sie am 4. September jenen Jahres ein Studium am IfL auf, von dem sie schon am 14. Dezember aus politischen Gründen wieder exmatrikuliert wurde.[13] Die Schriftseller-Studentin war in ein Spannungsfeld zwischen ihren literarischen Idealen und den politischen Ansprüchen der DDR geraten. Bemerkenswert ist dabei auch die Tatsache, dass Helga M. Nowak, verheiratete Vigfússon, sich ihre sämtlichen personenbezogenen Dokumente vom IfL aushändigen ließ,[14] sodass es heute wohl nur noch an Hand von Zeitzeugeninterviews möglich ist, ihre dortige Studienzeit in Einzelheiten zu rekonstruieren. Zu Nowaks Kommilitonen zählten u.a. Karl Wurzberger, Horst-Ulrich Semmler, Rosemarie Fret und Karin Raischies.[15]

Anfang 1966 stellte sie sodann einen Ausreiseantrag und verließ endgültig die DDR nach Island.  Durch ihre Ansichten war sie zu einer unerwünschten Person in der DDR geworden. Per Gesetzesbeschluss des Alþingi (isländischen Parlaments) über die Gewährung der isländischen Staatsbürgerschaft wurde Helga Maria Vigfússon am 30. April 1966 die isländische Staatsangehörigkeit gewährt,[16] weil schon sie zuvor drei Jahre lang mit ihrem isländischen Ehemann in Island gelebt hatte.[17] In diesem Zusammenhang nahm sie ihren isländischen Namen an. Bis heute sind in Island Patronyme, also an Stelle eines Familiennamens vom Rufnamen des Vaters abgeleitete Abstammungsnamen, üblich. Helga Maria Vigfússon war (Adoptiv)tochter von Karl Nowak, sodass ihr islandisierter Name María Karlsdóttir (Karls Tochter) wurde. Gleichzeitig hat sie die Staatsbürgerschaft der DDR verloren; jene der BRD hingegen nie beantragt.[18]

Doch auch auf der Insel im Nordatlantik blieb ein länger währendes familiäres Glück verwehrt. Die Ehe wurde 1968 geschieden[19] und María Karlsdóttir verzog in die Bundesrepublik Deutschland. Regelmäßig kehrte sie besuchsweise nach Island zurück. Im Dezember 1982 gab sie der Zeitschrift Helgarpósturinn ein Interview und berichtete über Schwierigkeiten ostdeutscher Autoren in der BRD, insbesondere den harten Konkurrenzkampf.[20]

Nach der politischen Wende 1989/90 in der DDR wurde sie von ihrer Vergangenheit eingeholt. In einem Offenen Brief im Spiegel gestand sie ein, für das MfS tätig gewesen zu sein und ausländische Studenten bespitzelt zu haben.[21] Tatsächlich füllt der Umfang der Stasi-Akte zu Helga M. Nowak mit einer Laufzeit von 1957-1989 einen ganzen Aktenordner. Darin findet sich auch ihre Verpflichtungserklärung von 1957.[22] Vergessen werden darf hierbei allerdings nicht, dass auch ihr (späterer) Ehemann Þór Vigfússon seinerseits im Auftrag der Kommunistischen Partei Islands mutmaßliche Spionagetätigkeiten in der DDR begangen haben soll.[23]

Die neuen Zeiten brachten noch eine weitere Schwierigkeit für María Karlsdóttir mit sich. Als isländische Staatsbürgerin, die nach 1990 nie ihren dauerhaften Wohnsitz in Deutschland bestätigen ließ, hatte sie vorerst auch kein Anrecht auf Sozialleistungen.[24] Ihre literarischen Werke indessen zeugen vom Beherrschen der deutschen Sprache – jener Voraussetzung, welche es seit einer Gesetzesänderung auch ausländischen Staatsangehörigen in Deutschland erlaubt, Sozialleistungen in Anspruch zu nehmen.[25]

Helga M. Nowak alias María Karlsdóttir verstarb am 24. Dezember 2013 in Rüdersdorf bei Berlin.

Quellenverzeichnis:

Archivquellen:

Bundesarchiv, BA MfS AIM 916/61 Bd. 1.

Bundesarchiv, BA MfS AP 1382/92.

Forschungsplattform Literarisches Feld DDR, Helga M. Novak.

RÚV, DB9213. Samtímaskáldkonur, 1.10.1985.

RÚV, 015268-0010-01. Orð um bækur, 9.12.2012.

Sammlung Jacob, Berlin, Helga M. Nowak.

Þjóðskrá Íslands, Auskunft vom 31.1.2024.

Gedruckte Quellen:

Alþingi: Lög 18/1966 um veitingu ríkisborgararéttar. 9. mál, nefndarálit 507, 19.4.1966.

Alþingi: Lög 18/1966 um veitingu ríkisborgararéttar. 9. mál, lagafrumvarp 663, 30.4.1966.

Morgunblaðið: Minningar, 18.5.2013, S.32.

Morgunblaðið: Minningar, 22.9.2020, S. 21f.

[O.V.]: Þýzk stúlka, búsett á Íslandi. In: Morgunblaðið, 14.12.1967, S.17.

[O.V.]: Þýsk skáldkona segist hafa unnið fyrir Stasi. In: Morgunblaðið, 7.11.1991, S.20.

[O.V.]: Flýði land ásamt Íslendingi sem njósnað hafði um systurflokkinn. In: Morgunblaðið, 12.11.1991, S.27.

[O.V.]: Íslenskir námsmenn undir eftirlit Stasi í Leipzig. In: Tíminn, 9.11.1991, S.26.

Tanneberger, Horst, u. Hillich, Reinhard: Literatur in der SBZ/DDR. Bibliographische Annalen 1945-1990. Begründet von Herbert Jacob. Berlin 2021.

Thoroddsen, Ásdís: Ekki hrædd lengur. In: Helgarpósturinn, 22.12.1982, S. 6.

Jacob


[1] Vgl. Sammlung Jacob. Helga M. Nowak.

[2] Vgl. Thoroddsen, Ásdís: Ekki hrædd lengur. In: Helgarpósturinn, 22.12.1982, S. 6.

[3] RÚV, DB9213. Samtímaskáldkonur, 1.10.1985.

[4] Vgl. Morgunblaðið: Minningar [Todesanzeigen], 22.9.2020, S. 21.

[5] Vgl. [O.V.]: Íslenskir námsmenn undir eftirlit Stasi í Leipzig. In: Tíminn, 9.11.1991, S.26.

[6] Vgl. Minningar, 22.9.2020, S.21.

[7] Vgl. [O.V.]: Þýzk stúlka, búsett á Íslandi. In: Morgunblaðið, 14.12.1967, S.17.

[8] Vgl. Minningar, 18.5.2013, S.32.

[9] Vgl. Þjóðskrá Íslands: Auskunft an den Verfasser vom 31.1.2024. Der genaue Ort der Eheschließung darf gemäß deutscher Personenstandsgesetze nicht veröffentlicht werden.

[10] Vgl. Samtímaskáldkonur.

[11] In den Bibliographischen Annalen wird Helga M. Novak mit zwei Publikationen geführt: Bei diesen handelt es sich aber zum einen um einen Beitrag in der inoffiziellen Zeitschrift Zweite Person aus dem Jahr 1987 (Vgl. Tanneberger, Horst, u. Hillich, Reinhard: Literatur in der SBZ/DDR. Bibliographische Annalen 1945-1990. Begründet von Herbert Jacob. Berlin 2021. Bd. VI, S. 3471f.) und zum anderen um einen Abdruck in einem Lesebuch des Internationalen Deutschlehrerverbandes aus dem Jahr 1989 als gemeinschaftliche Herausgabe mit dem bundesdeutschen Langenscheidt-Verlag (Vgl. Ebd., S. 3614).

[12] Vgl. Minningar, 18.5.2013, S.32.

[13] Vgl. BA MfS AP 1382/92, S.25.

[14] Vgl. Sammlung Jacob nach Sächsischem Staatsarchiv Leipzig.

[15] Vgl. Forschungsplattform Literarisches Feld DDR. Helga M. Novak.

[16] Vgl. Alþingi: Lög 18/1966 um veitingu ríkisborgararéttar. 9. mál, lagafrumvarp 663, 30.4.1966.

[17] Vgl. Ebd., 9. mál, nefndarálit 507, 19.4.1966.

[18] Vgl. RÚV, 015268-0010-01. Orð um bækur, 9.12.2012.

[19] Vgl. Minningar, 18.5.2013, S.32.

[20] Vgl. Ásdís Thoroddsen.

[21] Vgl. [O.V.]: Þýsk skáldkona segist hafa unnið fyrir Stasi. In: Morgunblaðið, 7.11.1991, S.20. – Dort auch Abdruck des Offenen Briefes.

[22] Vgl. BA MfS AIM 916/61 Bd. 1, S.14.

[23] Vgl. [O.V.]: Flýði land ásamt Íslendingi sem njósnað hafði um systurflokkinn. In: Morgunblaðið, 12.11.1991, S.27.

[24] Vgl. Orð um bækur.

[25] Vgl. Ebd.