Paula Fürstenberg hat in der Online-Anthologie “Nachbarschaften” des Leibniz-Zentrums für Literatur- und Kulturforschung beschrieben, wie sie, 1987 geboren und in Potsdam aufgewachsen, durch ihre Herkunft zur DDR-Expertin wurde – eine Expertise allerdings, die hauptsächlich auf der Ahnungslosigkeit ihrer nicht in der DDR sozialisierten Gesprächspartner*innen beruht:
In der Schweiz beantworte ich geduldig immer wieder die Fragen, ob meine Eltern arbeitslos seien, mit nein, und ob ich tatsächlich nackt baden würde, mit ja. In Frankreich zeichne ich ungefähre Deutschlandkarten auf Bierdeckel, um zu veranschaulichen, dass le mur de Berlin zwar Berlin teilte, die DDR aber auch noch eine Grenze zur übrigen BRD hatte. Später, im Berliner Gemeinschaftsbüro, drehen sich alle Köpfe erwartungsvoll zu mir, als die Frage auftaucht, was auf dem russischen Plakat an der Wand eigentlich draufsteht. Ich muss passen, ich bin 1987 geboren und hatte kein Russisch in der Schule. Überhaupt muss ich oft passen: Ich habe keine Ahnung, wie es sich hinter der Mauer lebte, welche Presse trotzdem gelesen wurde oder was in Westpaketen drin war. Aus Potsdam zu kommen ist für andere aber eine ausreichende Qualifikation zur Ost-Expertin. Wenn ich dann noch einen Namen wie Erich Mielke fallen lasse und sich mein Gegenüber umgeben von lexikalischer Kompetenz wähnt, kann ich unbemerkt meine vagen Vorstellungen von der Vergangenheit als Fakten auftischen. Meine Ahnungslosigkeit fällt nicht auf, weil mich eine noch größere Ahnungslosigkeit umgibt. So werde ich mit Anfang 20 zur Botschafterin eines nicht mehr existierenden Staates, in dem ich zwar geboren wurde, an den ich aber keine Erinnerungen habe.
Paula Fürstenberg: Wie ich Botschafterin der DDR wurde, in: Christina Ernst und Hanna Hamel (Hg.): Nachbarschaften. Online-Anthologie, erreichbar unter http://zfl-nachbarschaften.org/2020/07/07/wie-ich-botschafterin-der-ddr-wurde/. Letzter Zugriff am 26.10.2021.
Fürstenberg Beitrag lädt zum Nachdenken über die Bedeutung der Ost- oder Westsozialisation ein. Wer wissen möchte, was das mit einer diplomatischen Krise, Fischen in Gelee und ausverkaufter Hefe zu tun hat, liest hier weiter: