Gerhard Wolf und die Studierenden der deutschen Literatur – das ist eine Geschichte beglückender und inspirierender Begegnungen. Sie begann mit seinem Besuch bei uns an der Humboldt-Universität im Juni 2015. Die gerade erst gegründete studentische Arbeitsgruppe „Christa Wolf andernorts“ hatte den Essayisten und Herausgeber eingeladen, von der Gründung seines Verlags Januspress zu erzählen. Noch gab es keinen eigenen Ort, wir trafen uns im Heiner Müller Transitraum.
Der vor Geschichten nur so sprudelnde Gast mit einem unfassbaren Detailgedächtnis und seiner verschmitzten Konzentration steckte uns alle an: Gerhard Wolf war selbst sozusagen lebendige Literaturgeschichte! So aufregend konkret konnte literarisches Leben sein? So viel Leben steckte in und hinter den Büchern, die allesamt als Geschenk zu uns kommen sollten? Die Student:innen wurden geradewegs mitgerissen von diesem Philologen alter Schule. Wie gut, dass der Kameramann Ralf Klingelhöfer diesen langen Nachmittag dokumentiert hat. Auch mehrere meiner Befragungen Gerhard Wolfs zu Schwerpunkten der Privatbibliothek sind filmisch festgehalten. Wir kommen von einem Thema zum nächsten, er zitiert Titel und ganze Verse aus dem Stand. Mehrfach fordert er mich auf, eine bestimmte Ausgabe von ganz oben in einem der Regale herauszusuchen. Obwohl der fast Neunzigjährige schon seit längerem nicht mehr auf die Leiter steigen kann, weiß er genau, wo was zu suchen ist. Und wenn nicht, lässt er nicht locker: Die muss doch hier sein oder vielleicht steht der Band doch da drüben? Unaufgeregt selbstverständlich setzt er Kunstsinn und literarische Bildung bei seinem Gegenüber voraus und wird so zum Lehrer und Anstifter ohne Lehrmeister zu sein.
Wenn wir am 7. Februar 2023 erfahren mussten, dass Gerhard Wolf vierundneunzigjährig mit seiner Lesebrille in der Hand für immer eingeschlafen ist, so sind seine Arbeiten und Anregungen in unseren Seminaren, in Bachelor- und Masterarbeiten, in Ausstellungsprojekten, Publikationsvorhaben, Podcasts und Fotodokumentationen präsenter denn je.
Es sind seit 2015 schon mehrere Studienjahrgänge, die das Glück hatten, Gerhard Wolf auch persönlich kennenzulernen: Auf einer Reise an den heute polnischen Geburtsort Christa Wolfs Gorzow Wielkopolski oder auf der festlichen Eröffnung der von Studierenden erarbeiteten Christa Wolf-Ausstellung im Literaturhaus Fasanenstraße. Im Interview zum Gegenstand einer studentischen Abschlussarbeit oder den wertvollen Bücher-Bestand in der so besonderen Pankower Wohnung voller Bilder und Bücher verzeichnend. Ein kollabiertes Bücherregal in seinem Arbeitszimmer wieder einräumend oder ein Thema zur Ausstellung entwickelnd. Oder auch im Arbeitszimmer Christa Wolfs das Programm vorstellend, das besonders engagierte Studentinnen auf der Grundlage der Briefauswahl Christa Wolfs und des „Tagesbuchs“ Ein Tag im Jahr erarbeitet hatten. Von der Musik-Text-Collage berichtend, die eine studentische Gruppe auf der Basis seines letzten großen Essays „Herzenssache“ über die Freundschaft zu Franci Faktorová konzipierte und auf einer wissenschaftlichen Tagung präsentieren durfte.
Gerhard Wolf verwickelte die jungen Besucher:innen ins Gespräch über Literatur, kommentierte den Lyrikband, den man gerade wieder ins Regal einräumte und die Zeitschrift, die er einem aus dem überfüllten Regalfach herauskramte. Dabei hätte man sich am liebsten erst einmal nur staunend umgesehen: Was da Aufregendes an Wänden hing, kreuz und quer in Regale gestopft war und auf diversen Abstelltischen herumlag! Die Bücherkisten, die diverse Helfer:innen zum Umzug aus dem Woseriner Sommerhaus und dem Pankower Souterrain in die Arbeits- und Forschungsstelle “Privatbibliothek Christa und Gerhard Wolf” an der Humboldt-Universität schleppten, wurden zum Ausgangspunkt überraschender Entdeckungen. Diese gesammelten Büchergeschenke prominenter Persönlichkeiten! Diese einschüchternden Schätze an persönlichen Widmungen! Diese rätselhaften Randbemerkungen und unerwarteten Buch-Einlagen!
Stets agierte Gerhard Wolf auch als warmherziger Gastgeber. Der kleine Wintergarten (nicht mal das ein Ort ohne Bücher), sein Arbeitszimmer mit der großformatigen transparenten Grafik von Carlfriedrich Claus, dem Grafikschrank und dem Schreibtisch mit einer in die Jahre gekommenen elektronischen Schreibmaschine, das helle Arbeitszimmer Christa Wolfs mit Fotos und Andenken in den doppelreihig belegten Bücherregalen – alle diese Räume wurden zu Ideenschmieden in Sachen Literatur. „Man müsste mal sehen, ob …“, „… das müsste man sich mal genauer angucken“. Und immer wieder Zustimmung, großzügige Unterstützung und Ermutigung: „Na klar: macht mal!“. Zum Büchergespräch gab es Kuchen und Kaffee und nicht selten bekam die tagelang Buchtitel verzeichnende Praktikantin auch noch eine von
ihm gekochte Suppe vorgesetzt.
Wie üblich fragte Gerhard Wolf mich auch bei meinem letzten Besuch kurz vor Weihnachten 2022 aus: Was macht ihr gerade, was habt ihr vor? Ich erzählte von den jungen Leuten, die ihr Studium inzwischen abgeschlossen hatten und an deren beeindruckender Entwicklung er ganz persönlich Anteil hatte. Ich berichtete von noch unabgeschlossenen alten und von neuen Projekten, vom Fortschritt einzelner Bachelor- und Masterarbeiten, von einem neuen Aufsatz und vom erstmals vergebenen Christa und Gerhard Wolf-Förderpreis. Eigentlich aber wunderte ich mich jede Minute unseres Gesprächs über den so jungen und wachen Geist meines vierundneunzigjährigen Gegenübers, über diesen unfassbaren Literatur-Enthusiasmus, über die Ideen, die er in mir auslöste, die ansteckende Energie und Freundschaftlichkeit. Seine Art, in der Welt zu sein, wird mich begleiten. Eine „Herzenssache“ eben.
Und so hatte ich Gerhard Wolf im Juni 2015 vorgestellt:
Gerhard Wolf ist ein Philologe alter Schule: Literaturkenner, Literatur- und vor allem Autorenförderer über Jahrzehnte, Redakteur, Lektor, Essayist, Drehbuchautor, Literaturhistoriker, Mentor und Herausgeber.
Seine Aufsätze der 1980er Jahre in den Reclambänden von 1988 und 1992 enthalten Spuren für ganze
Seminare auf seinen Pfaden: Wolf erklärte 1986 als einer der ersten innerhalb der DDR die weitgehend ungedruckte experimentelle Lyrik von Bert Papenfuß, Stefan Döring, Jan Faktor, Andreas Koziol und Uwe Kolbe in einem ausführlichen Vortrag. Er zitierte die damals offiziell ungedruckten Texte betont ausgiebig – und sein Reclambändchen Wortlaut Wortbruch Wortlust von 1988 war sofort vergriffen. Dieser Band zeigt Gerhard Wolf tatsächlich „im Dialog mit Dichtung“, wie sein Untertitel verheißt, es ist eine wunderbare Methodenschule für literaturhistorische Quellenkunde und für den feinsinnigen und pointiert urteilenden Umgang mit Lyrik.
Lesen Sie seinen Aufsatz von 1981 „Brecht liest Bachmann“! Wie er darin sowohl Bertolt Brechts als auch Ingeborg Bachmanns Poetik gerecht wird! Wie er Brechts respektlosen Umgang mit den Gedichten der jüngeren Kollegin (dem Band Die gestundete Zeit von 1953) auf die Schippe nimmt und zugleich anhand der Brechtschen Streichungen dessen poetische Perspektive darauf erklärt:
Man kann es sich nur schwer versagen, nicht polemisch zu reagieren, wenn man ansehen muss, wie hier ein Dichter mit einer Dichterin verfährt. Aber die Literaturgeschichte bietet zahlreiche ominöse Beispiele dafür, wie schwierig es ist, dass ein Gestirn das Leuchten eines anderen wirklich wahrzunehmen vermag und es als Licht erkennt. Man lese Schillers Korrektur zu Hölderlins Gedicht „An die klugen Rathgeber”, und man weiß genug. Brecht sah sich nach seinem Selbstverständnis in der Rolle eines solchen Ratgebers, in der ihm angetragenen und längst respektierten Mission des Lehrers, der allein weiß, wie ein Gedicht zu sein hat. Da war der Rotstift gleich bei der Hand. […] Brechts extrahierende, apodiktische Redaktion schärft unser Empfinden und Bewusstsein für das Parlando der frühen Poesie von Ingeborg Bachmann, für die Schönheiten und Übersteigerungen ihres metaphorischen Sprechens, ihrer Emotionen, ihrer Sinnlichkeit, die sich in ihren „ausschweifenden” Versfolgen offenbart […].
Gerhard Wolf: Brecht liest Bachmann, 1981
Das ist die Dialektik des Literaturhistorikers Gerhard Wolf. Eine Vorliebe für die Unangepassten und Kantigen unter den Dichtern scheint sich durch sechs Jahrzehnte Literaturengagement zu ziehen: Wolf schrieb über Louis Fürnberg, Johannes Bobrowski, Friedrich Hölderlin, Heinrich von Kleist und die Romantiker, über Erich Arendt, Georg Maurer, Sarah Kirsch und Irmtraud Morgner. Die von ihm herausgegebenen Anthologien schrieben die Geschichte der Lyrik der DDR entscheidend mit, das gilt für die erste von 1959 Sagen wird man über unsre Tage ebenso wie für die Erich-Arendt-Gesamtausgabe ab 1995. Wolf entdeckte uns zusammen mit Günter de Bruyn in den 1980er Jahren den Märkischen Dichtergarten wie er in den sechziger Jahren zu den frühen Förderern einer Elke Erb, eines Karl Mickel, Volker Braun oder Adolf Endler gehört hatte.
Wie wurde Gerhard Wolf zur „Instanz“ für Dichter:innen? 1928 in Bad Frankenhausen geboren, wurde er 1944-45 noch als Flakhelfer eingesetzt. Die Abiturprüfung konnte er erst nach der Rückkehr aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft ablegen. Unmittelbar darauf arbeitete er ab 1947 als „Oberschulhelfer“ und begann 1949 in Jena Germanistik und Geschichte zu studieren. Nun kommt Christa Wolf ins Spiel: Nach der Heirat 1951 und der Geburt der ersten Tochter entschied das studierende Paar, einer von beiden müsse nun erst einmal den Unterhalt für die Familie verdienen. So wurde er Rundfunkredakteur in Leipzig und Berlin. Mitte der 1950er Jahre beendete er dann das unterbrochene Studium an der Humboldt-Universität. Er arbeitete als Lektor im Mitteldeutschen Verlag, später im Aufbauverlag, wo er die außergewöhnliche Reihe „Außer der Reihe“ durchkämpfte. Die ging aber 1988/89 in den Wirren der historischen Ereignisse weitgehend unter und 1990 wurde der Zweiundsechzigjährige mit seinem kleinen feinen Verlag JanusPress zum „Jungverleger“. Zumindest erwähnt sei zum Schluss, dass ihm sein aufrechter Gang nach der Biermann-Ausbürgerung 1976 einen Parteiausschluss bescherte.
Seine große Belesenheit, die er nie herausstellt, sein verlegerischer Mut zum Experiment, seine sichere Hand für poetische (und bildkünstlerische!) Qualität, die unendliche Dialogbereitschaft – das alles sind Charakterzüge, die Gerhard Wolf zu einer Autorität unter Intellektuellen gemacht haben. „Du bist nun mal unentbehrlich für jede ernstere Arbeit”, schrieb Volker Braun seinem Kritiker 1971.
Von Birgit Dahlke