Im Projektseminar „DDR-Literaturgeschichte aus Quellen“, das im Sommer 2021 von Birgit Dahlke an der Humboldt-Universität zu Berlin geleitet wurde, erstellten Studierende Essays zu einzelnen Quellen aus der DDR-Literaturgeschichte. Einige dieser Arbeiten stellen wir hier in gekürzter Fassung vor. Vielen Dank an Luisa Sarina Möllmann für die Einwilligung zur Publikation!
Die Rückschau auf historische Ereignisse sowie Prozesse birgt häufig die Gefahr der Verallgemeinerung. Auch die Geschichtsschreibung zur DDR-Literatur ist davon zumindest (aber nicht nur) populärwissenschaftlich nicht frei. Allzu oft wird davon gesprochen, dass es für Autor*innen eine klare „Rote Linie“ gegeben habe, die zu überschreiten von staatlicher Stelle nicht genehmigt war. Aus dem Blick gerät bei dieser Feststellung, dass das zu Sagen Mögliche zeitlich veränderlich war und dass Thementabus von gesellschaftlichen Prozessen, politischen Entwicklungen, aber auch von persönlichem Einsatz beeinflussbar waren. Ein Beispiel dafür ist der Vergleich von zwei Briefen, die Max Walter Schulz am 23.05.1984 und 20.10.1987 an Trude Richter schrieb anlässlich einer geplanten Veröffentlichung von Lebenserinnerungen Richters in der Zeitschrift „Sinn und Form“, deren Chefredakteur er war.
Um zu verstehen, weshalb eine Veröffentlichung der Lebenserinnerungen Richters in einer Zeitschrift der DDR als heikel angesehen wurde, muss ein Blick auf den Lebenslauf der Literaturwissenschaftlerin und Autorin erfolgen. Trude Richter, eigentlich Erna Barnick, wurde 1899 in Magdeburg geboren und engagierte sich früh in kommunistischen Vereinigungen. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten war sie gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten Hans Günther im Widerstand und folgte diesem 1934 ins sowjetische Exil. Im Zuge des ‚Großen Terrors’ wurden beide im Jahr 1936 wegen angeblicher ‚konterrevolutionärer, trotzkistischer Tätigkeit’ verhaftet und zu fünf Jahren Straflager verurteilt. Erst im Jahr 1946 wurde sie aus einem Lager in der Region Kolyma entlassen, Günther starb auf dem Weg in dieses bereits 1938. Doch auch nach der Entlassung aus dem Straflager litt Richter unter Repressionen der sowjetischen Staatsführung: So durfte sie sich bis 1949 nur in Ostsibirien ansiedeln und wurde im selben Jahr in ‚ewige Verbannung’ nach Ust-Omtschug verschickt, wo sie bis zu ihrer Haftentlassung 1953 blieb. Ihre vollständige Rehabilitierung erfolgte erst im Jahr 1956, woraufhin sie auf Vermittlung von Anna Seghers in die DDR übersiedelte und von 1957 bis 1966 am Literaturinstitut Johannes R. Becher lehrte. Unter ihren Schüler*innen befand sich dort u.a. Max Walter Schulz. Richter begann bereits früh, ihre Erinnerungen an die Lagerhaft niederzuschreiben, scheiterte jedoch zunächst mit ihren Bestrebungen, diese in der DDR zu veröffentlichen. Im Jahr 1983 erfolgte erstmals die Veröffentlichung einer indirekten Anspielung auf Richters Lagervergangenheit in einem von Elisabeth Schulz-Semrau, der Ehefrau von Max Walter Schulz, verfassten Porträt Richters, das in der Frauenzeitschrift „Für Dich“ erschien. Zwar hatte auch in der DDR nach dem XX. Parteitag der KPdSU 1956 eine Abkehr vom Stalinismus stattgefunden, eine Aufarbeitung des Unrechts der Stalinzeit blieb aber aus, so dass ein offener Diskurs über die Zeit der Gulags weiterhin nicht möglich war.
In dem Brief, den Max Walter Schulz im Jahr 1984 schrieb, wird deutlich, wie heikel eine Veröffentlichung von Richters Lebenserinnerungen war. So schreibt Schulz, dass diese zwar fest eingeplant gewesen, jedoch von „höheren Orts (höchsten Orts)”[1]Alle Zitate stammen aus den Briefen von Max Walter Schulz an Trude Richter vom 23.05.1984 (Archiv der Akademie der Künste – AdK, Berlin, Akademie der Künste (Ost), AdK-O 2145, Bl. 422 (Sinn und … Continue reading verhindert worden sei. Schulz betont in der Folge, dass die verhinderte Veröffentlichung nicht begründet sei durch einen Zweifel an Richters kommunistischer Gesinnung. Vielmehr sei er darauf hingewiesen worden, dass die Zeit für eine Veröffentlichung der Erfahrungen Richters noch nicht reif sei, wobei die Formulierung „Geschichtlichkeit, die sich mit dem Wort ‚Lager‘ verbindet“, keinen Zweifel daran lässt, welcher Aspekt der Erinnerungen als kritisch bewertet wurde: ihre Gulagerfahrung.
Schulz betont im Folgenden zwar seine „Ungehaltenheit“ auf Grund des Veröffentlichungsverbots, beschreibt jedoch auch die Unmöglichkeit einer Missachtung desselben, da ein darauffolgender Skandal „uns politisch mehr geschadet als genutzt hätte“. Der Brief schließt mit einer an Richter gerichteten Beschwichtigung, in der Schulz an ihre „Disziplin“ und „politische Vernunft“ appelliert, gefolgt von einem abschließenden Satz, in dem er ihr seine Zuneigung und „tiefe Verehrung“ versichert.
Anzumerken zu der Wirkung des Briefes ist zunächst die deutlich werdende tiefe Verbundenheit und Nähe von Schulz zu Richter, welche erkennbar ist an Formulierungen wie „gib mir die Hand, liebe Trude“. Ebenso fällt jedoch auch die Eindringlichkeit der Beschwichtigungen Schulz‘ auf (z.B. zu erkennen an der nochmaligen Ansprache „Liebe Trude“, die seiner Aufforderung zur „politischen Vernunft“ vorangestellt ist). Unklar bleibt, ob es sich bei Schulz‘ eindringlichen Beschwichtigungen um eine persönliche Verteidigungsstrategie gegen mögliche Anschuldigungen Richters handelt oder um einen Versuch, ein Aufbegehren Richters gegen staatliche Stellen zu verhindern und somit zu vermeiden, dass sie sich selbst in politisch unangenehme und riskante Situationen brachte.
Vollkommen anders gestaltet sich der Brief von Max Walter Schulz an Trude Richter aus dem Jahr 1987. Zwar wird eine ebenso tiefe Zuneigung zwischen Schulz und Richter deutlich, jedoch ist es Schulz hier möglich, gute Neuigkeiten zu überbringen: So ist zu lesen, dass er keine Einmischung äußerer Stellen dulde und alleine über die Veröffentlichung der Lebenserinnerungen Richters entscheide, wobei die Formulierung „wir, deine Schüler“ impliziert, dass diese weitere Unterstützung von anderen ehemaligen Schülern erhalte. In der Folge beschreibt Schulz das weitere Vorgehen: So wolle er gemeinsam mit ihr den betreffenden Auszug ihrer Erinnerungen aussuchen und diesem das oben angesprochene, von Schulz-Semrau verfasste Porträt, folgen lassen.
Nach der Lektüre der beiden Briefe stellt sich die Frage, warum eine Veröffentlichung der Erinnerungen Richters 1984 unmöglich und zu riskant erschien, drei Jahre später jedoch machbar.
Für die Beantwortung dieser Frage lohnt zunächst ein Blick auf die gesellschaftspolitische Situation der Jahre 1984 und 1987. Dabei ist mit Blick auf das Jahr 1984 anzumerken, dass die DDR sich innen- wie außenpolitisch in einer angespannten Lage befand. So verschärfte sich die Anspannung zwischen den Blöcken ab 1983 in Bezug auf die Rüstungspolitik deutlich mit direkter Auswirkung auf die Beziehungen zwischen DDR und BRD. Dieser Konflikt sowie zahlreiche weitere außenpolitische Konflikte (z.B. die angespannte Lage in Polen) wirkten sich auch auf die innenpolitische Lage aus. Ähnlich wie auch schon in früheren Jahren verschärften sich innenpolitische Repressionen mit ansteigender außenpolitischer Spannung.
Ganz anders hingegen die politische Lage im Jahr 1987: So war die innenpolitische Situation in der DDR entspannt wie selten, gut zu erkennen etwa an der gelassenen Reaktion der politischen Führung auf den Olof-Palme-Friedensmarsch. Auch der Umgang mit dem Thema Stalinismus wurde nicht zuletzt mit den durch Glasnost und Perestroika angestoßenen Aufklärungsbestrebungen der stalinistischen Verbrechen in der Sowjetunion in der DDR offener. So erschien in „Sinn und Form“ bereits 1986 ein Artikel, der sich mit Entwicklungen des Stalinismus auseinandersetzte.
Es lässt sich also feststellen, dass gesellschaftspolitische Entwicklungen der betreffenden Jahre durchaus Einfluss auf den unterschiedlichen Umgang Schulz’ mit der Veröffentlichung der Lebenserinnerungen Richters genommen haben könnten. Weitere Gründe könnten sich allerdings auch in der persönlichen Situation Schulz‘ finden. Da durch die gleichermaßen herzliche Formulierung der beiden Briefe zu vermuten ist, dass die Zuneigung Richters und Schulz’ und so vermutlich auch der Einsatz von Schulz für Richter sowohl 1984 als auch 1987 gleichermaßen groß war, liegt auch ein Blick auf Schulz’ beruflicher Situation nahe. Hierbei ist festzustellen, dass er im Jahr 1984 erst wenige Monate Chefredakteur der „Sinn und Form“ und somit vermutlich seiner beruflichen Situation nicht allzu sicher war. Ganz anders im Jahr 1987: Nicht nur hatte er zu diesem Zeitpunkt seine berufliche Position bereits einige Jahre behaupten können, auch waren Schulz mehrere Ehrungen zu Teil geworden. So verlieh man ihm im Jahr 1986 die Ehrenspange des Vaterländischen Verdienstordens, auch wurde ihm 1987 ein Ehrendoktorat der Universität Leipzig verliehen. Die Vermutung liegt deshalb nahe, dass er sich seiner Position im Jahr 1987 sicherer sein und somit auch mehr berufliches Risiko eingehen konnte. Zudem könnte auf Grund der Formulierung „wir, deine Schüler“ vermutet werden, dass Schulz sich im Vorhinein der Unterstützung weiterer namhafter Personen des Literaturbetriebs versicherte.
Anhand der beiden vorgestellten Briefe kann also, wie eingangs bereits vermutet, durchaus gezeigt werden, dass „Rote Linien“ und Tabuthemen der DDR-Literatur zeitlich veränderlich sowie beeinflussbar durch gesellschaftspolitische Prozesse, aber auch persönliche Entwicklung waren.
Von Luisa Sarina Möllmann
Redaktionelle Anmerkung: Ein Ausschnitt aus Trude Richters Erinnerungen konnte unter dem Titel „Station Kilometer Sieben“ in „Sinn und Form“ 1988, Heft 3 erscheinen. Richters komplette Memoiren „Totgesagt. Erinnerungen“ erschienen erst posthum 1990.
References
↑1 | Alle Zitate stammen aus den Briefen von Max Walter Schulz an Trude Richter vom 23.05.1984 (Archiv der Akademie der Künste – AdK, Berlin, Akademie der Künste (Ost), AdK-O 2145, Bl. 422 (Sinn und Form: Korrespondenz mit Autoren 1984) und 20.10.1987 (Archiv der Akademie der Künste – AdK, Berlin, Akademie der Künste (Ost), AdK-O 2170 (Sinn und Form: Korrespondenz mit Autoren 1987). |
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