Kurzporträt: Holger Benkel

„Die Seminargruppe, zu der ich gehörte, ist insofern nicht repräsentativ fürs Literaturinstitut, als das angestrebte Studienziel nicht erreicht werden konnte. Die Studenten der Gruppe, die meisten waren um die 30, hatten ihr Studium mit der Absicht begonnen, […] sich Grundlagen zu schaffen für die freiberufliche […] oder literaturnahe Arbeit und das häufig nach beruflichen Umwegen, Abbrüchen begonnener Studien und der Berufslaufbahnen, […] sowie Tätigkeit als Hilfsarbeiter und Reinigungskraft. Sie wollten endlich eine Lebensperspektive […].“[1]Holger Benkel: Brief an Marianne Jacob, 2. 7. 2021. Mit diesen Worten beschreibt Holger Benkel, der wie auch Bodo Ranke (†), Uwe Heit, Olaf Müller und Raymund Töpfer zu den letzten Absolvent*innen des Literaturinstituts Johannes R. Becher der Jahre 1988 bis 1991 gehörte, diese Umbruchzeit.

Mit freundlicher Genehmigung von Holger Benkel

Der Autor, Jahrgang 1959, Sohn eines Buchdruckers sowie Lehrers und einer Sachbearbeiterin, besuchte die Polytechnische Oberschule in der Elbestadt Schönebeck. Nach kurzzeitiger Arbeit in einem Traktorenwerk war er Pressevolontär bei einer Lokalredaktion der Volksstimme Magdeburg und arbeitete ab 1980 als Mitarbeiter an der Kulturakademie Magdeburg.[2]Holger Benkel: Fragebogenauskunft an Marianne Jacob. 1987 besuchte er das Becher-Institut im Fernstudium und begann hier ein Jahr später das Direktstudium. Seine Dozent*innen waren Friedrich Albrecht, Peter Gosse, Anneliese Hübscher, Bernd Leistner und Hubert Witt. Gut kann Benkel sich noch an seine beiden Abschlußarbeiten erinnern: etwa 60 Gedichte[3]Gedichte erschienen größtenteils im Gedichtband „Kindheit und Kadaver“ Magdeburg 1995. sowie „augenglasspiegelhautkapseltum oder der kosmos in der küche. Zur lyrik von birgitt lieberwirth“.[4]Ders. Ebenda.

Über die Zeit nach dem Studium äußert sich der Autor von Lyrik, Essay, Rezension und „Mikrogedanken“[5]Ders. ebd., die bisweilen nachdenklich bis aufrüttelnd sind: „Manche der Studenten haben literarisch weiter gearbeitet, andere völlig damit aufgehört. Einige sind zu ihren früheren Berufen zurückgekehrt. Mir ermöglichte der soziale Tod Erkenntnisse, die man sonst so leicht nicht bekommt. Ich hatte seither nie wieder Illusionen und entwickelte statt dessen ein definitives Mißtrauen, das man normalerweise erst am Lebensende hat.“[6]Holger Benkel: Brief an Marianne Jacob, 2.7. 2021.

Seit 1995 veröffentlicht der Schriftsteller, der bis zum Jahre 2000 einen Zirkel Schreibender Schüler am Gymnasium in Schönebeck leitete[7]Holger Benkel: Fragebogenauskunft an Marianne Jacob., regelmäßig Essays, Aphorismen und Gedichte, die auch an Georg Trakl erinnern. Für sein literarisches Schaffen erhielt er u.a. den Georg-Kaiser-Preis des Landes Sachsen-Anhalt (1996) sowie den Preis Forum Literatur in Ludwigsburg. Zur „Aufgabe der Literatur“ äußert er: „Man kann mit Büchern nicht die Wirklichkeit verändern oder gar den Menschen, sondern nur einzelne Menschen anregen“.[8]Ebenda. Ihn selbst haben Autoren aus verschiedensten Zeiträumen angeregt, u.a. Aristophanes, Ovid, Novalis, Kleist, Hölderlin, Baudelaire, Rimbaud, Trakl, Kafka, Bobrowski, Arno Schmidt, Dürrenmatt sowie Heiner Müller, Fühmann und Christa Wolf, aber auch Jacob Grimm, Friedrich Nietzsche und Walter Benjamin haben sein (schriftstellerisches) Leben geprägt.[9]Ebd.

Benkels „aphoristische Gedanken reflektieren auch Erfahrungen der Jahre am Literaturinstitut“[10]Benkel, Holger: Brief an Marianne Jacob 15. 6. 2021.. Hier eine kleine Auswahl:

„literatur und kunst:

altersweise kunst greift oft auf erlebnisweisen der kindheit zurück, wie wenn das leben dazwischen nur ein durchgangstor, eine pforte ins erkennen wäre.

denken und bildung:

aufgeklärtes denken verlangt, daß jeder antwort eine originellere neue frage folgt.

utopie und hoffnung:

wer aus der analyse des zustands der welt geradewegs ein programm entwickeln wollte, müßte die menschheit abschaffen.

krieg und gewalt:

gewaltfreiheit ist beim menschen eine kulturleistung, die stets, und von jeder generation, neu erlernt werden muß.“

Holger Benkel: Aphoristische Gedanken. Brief an Marianne Jacob. 8. Tag des steineichenmonats 2021, auf der suche nach der anderswelt.

Von Marianne Jacob

References

References
1 Holger Benkel: Brief an Marianne Jacob, 2. 7. 2021.
2, 7 Holger Benkel: Fragebogenauskunft an Marianne Jacob.
3 Gedichte erschienen größtenteils im Gedichtband „Kindheit und Kadaver“ Magdeburg 1995.
4 Ders. Ebenda.
5 Ders. ebd.
6 Holger Benkel: Brief an Marianne Jacob, 2.7. 2021.
8 Ebenda.
9 Ebd.
10 Benkel, Holger: Brief an Marianne Jacob 15. 6. 2021.

Kurzporträt: Friedrich Blass

Mit freundlicher Genehmigung von Käthe Blass

Friedrich Blass, Sohn eines Zimmermanns und einer Hausfrau wurde im September 1928 in Czernowitz geboren.[1]Friedrich Blass: Interview mit Marianne Jacob. Blass ist der erste und zugleich der älteste von mir interviewte Autor in der Reihe der Fragebogenaktion „Autoren Antworten“. Czernowitz war in dieser Zeit eine heterogene rumänische Stadt mit einer interkulturellen Bevölkerung aus Deutschen, Russen, Ukrainern, Polen und Juden. Nach dem Ribbentrop-Molotow-Pakt (1939) zwischen Hitler und Stalin wurde die Stadt im Juni 1940 besetzt und die deutsche Bevölkerung mit der Parole „Heim ins Reich“ in heutige polnische Gebiete umgesiedelt. Czernowitz musste später eine wechselvolle Geschichte durchleben, gehörte 1940-41 zur UdSSR, danach bis 1944 zu Rumänien, anschließend zur UdSSR, sie befindet sich heute in der Ukraine. Auch Familie Blass wurde umgesiedelt und kam nach dem II. Weltkrieg als Flüchtling  nach Bitterfeld.[2]Käthe Blass: Fragebogenauskunft an Marianne Jacob. Blass arbeitete nach dem Besuch der 10. Klasse seit 1945 als Arbeiter, erhielt eine Ausbildung als Zahntechniker und besuchte diverse Kurse an Volkshochschulen;[3]Ebenda später zog er nach Halle. Hier war er im „Zirkel Schreibender Arbeiter“ und veröffentlichte seine erste Arbeit in der Anthologie „Greif zur Feder, Kumpel“.[4]Herbert Jacob: Literatur in der DDR. Bibliographische Annalen 1945-1962. Bd 2, S. 890 und Bd 3, S. 890. Berlin 1986. Später schrieb er Kurzgeschichten, vor allem Erzählungen für Kinder.[5]Käthe Blass: Fragebogenauskunft an Marianne Jacob Der Autor studierte von 1959 bis 1960 im Direktstudium am Literaturinstitut Johannes R. Becher und hat, wie aus der Fragebogenaktion hervorgeht, noch eine lebhafte Erinnerung an viele Studierende aus dieser Zeit, wie z.B. an Dora Hajek, Lisa Wolfram, Günter Rumposch, Paul Rölle und Fritz Wege. Nach dem Studium war Blass Verlagsassistent und später Lektor[6]Käthe Blass: Fragebogenauskunft an Marianne Jacob. am 1960 neugegründeten DDR-Verlag für Grundstoffindustrie, einem Fachverlag für Bergbau und Energie, mit Sitz in Leipzig, der 1990 von der Treuhand verkauft, später eingestellt wurde und damit das gleiche Schicksal, wie fast alle DDR-Verlage erlitt.[7]Friedrich Blass: Interview mit Marianne Jacob. Im Jahre 1982 zog Blass nach Berlin und verstarb hier 2020.[8]Die Autorin dankt Burkhard Blass und Frau Käthe Blass für die weiterführenden Auskünfte und die Unterstützung der Forschungsarbeiten.

Von Marianne Jacob

References

References
1 Friedrich Blass: Interview mit Marianne Jacob. Blass ist der erste und zugleich der älteste von mir interviewte Autor in der Reihe der Fragebogenaktion „Autoren Antworten“.
2, 6 Käthe Blass: Fragebogenauskunft an Marianne Jacob.
3 Ebenda
4 Herbert Jacob: Literatur in der DDR. Bibliographische Annalen 1945-1962. Bd 2, S. 890 und Bd 3, S. 890. Berlin 1986.
5 Käthe Blass: Fragebogenauskunft an Marianne Jacob
7 Friedrich Blass: Interview mit Marianne Jacob.
8 Die Autorin dankt Burkhard Blass und Frau Käthe Blass für die weiterführenden Auskünfte und die Unterstützung der Forschungsarbeiten.

Kurzporträt: Gerd Bieker

Gerd Bieker 1988. Foto von Klaus Morgenstern. Quelle: SLUB / Deutsche Fotothek

Betrachtet man Veröffentlichungen bekannter, aber auch unbekannterer Künstler*innen, geht es ihnen nicht nur um Alltag, Sehnsucht, Schicksal und Begehren. Verarbeitet werden auch andere Themen, ohne dass die Publizierenden zugleich auch politische oder umweltpolitische Demagog*innen sein müssten.[1]Vgl. Gerd Bieker: Interview mit Marianne Jacob. 2021

So verfasste Gerd Bieker den Roman „Die Dorflinde“.[2]Gerd Bieker: Die Dorflinde. 1987. In dem generationsübergreifenden Jugendbuch, welches in der erzgebirgischen Heimat des Dichters spielt, fallen Hecken und Gehölze an Feldrändern der Erweiterung von Feldflächen zum Opfer. Auch die uralte Linde im Dorf soll gefällt werden. Ob diese doch noch gerettet werden konnte und inwiefern man Erfahrungen alter Bauern aufnehmen sollte, verrät uns dieses Buch.

Gerd Bieker, Sohn eines Hauptbuchhalters und einer Sekretärin, lebte über 60 Jahre in Chemnitz/ Karl-Marx-Stadt.[3]Gerd Bieker: Fragebogenauskunft an Marianne Jacob. Der in Grünhainichen Gebürtige arbeitete seit seiner Buchdruckerlehre bei der „Volksstimme“ in Chemnitz/sp. Karl-Marx-Stadt, seit 1957 ebendort als Zeitungsdrucker an Rotationsmaschinen.[4]Ebenda. Er war von 1960-1963, u.a. neben Wolfgang Eckert, Alfons Linnhofer (†) und Klaus Steinhaußen (†) Direktstudent am Becher-Institut in Leipzig. Nach dem Studium veröffentlichte er 1963 mit den Absolventen des Instituts Günter Glante und Rolf Merckel (†) eine „Zirkusreportage“. Bieker wirkte als Kulturinstrukteur beim Kulturbund der DDR und leitete mehrere Zirkel Schreibender Arbeiter, bevor er 1970 freischaffender Autor wurde.[5]Ders. ebenda.

Gerd Bieker bei seiner täglichen Presseschau 2021.[6]Gerd Bieker: Kartengruß an Marianne.Jacob, 17. 12. 2021. Mit freundlicher Genehmigung von Gerd Bieker

„Mit dem Satz: ‚Dieses Buch hat nichts mit unserem sozialistischen Lebensgefühl gemein!‘, begann Erich Honecker 1965 auf dem 11. ZK (M.J.: der SED)- („Kahlschlag“)-Plenum seine Beschimpfung der Schriftsteller […]. Gemeint war mein Debütroman „Sternschnuppenwünsche“. Auf sein Veto hin, wurde die erste Druckauflage […] gecancelt. Aber die Personagen wechselten; nach fünf Jahren Denk- und Lektoratszeit erschien das Buch in üppigen Auflagen.“[7]Ebd.

Bieker reiste mehrfach in die UdSSR und nach Rumänien, um Kontakt zu den dortigen Schriftstellerverbänden zu halten. Zu seinen literarischen Vorbildern zählt er Jerome D. Salinger, Thomas Wolfe und die Russischen Dorfliteraten.[8]Ders. ebd. Veröffentlicht hat er selbst Erzählungen, Romane, Reportagen und auch einige Kinderhörspiele.[9]Bieker bedankte sich in einem Brief für die Forschungs- und Fragebogen-Arbeiten am DDR-Literaturprojekt mit den Worten: „Das Vorhaben ist für mich und gewiß auch andere Kollegen sehr … Continue reading

Gerd Bieker verstarb unerwartet am 12. Juli 2022.[10]Auskunft: Herbert Jacob und Wolfgang Eckert.

Von Marianne Jacob

References

References
1 Vgl. Gerd Bieker: Interview mit Marianne Jacob. 2021
2 Gerd Bieker: Die Dorflinde. 1987.
3 Gerd Bieker: Fragebogenauskunft an Marianne Jacob.
4 Ebenda.
5 Ders. ebenda.
6 Gerd Bieker: Kartengruß an Marianne.Jacob, 17. 12. 2021.
7 Ebd.
8 Ders. ebd.
9 Bieker bedankte sich in einem Brief für die Forschungs- und Fragebogen-Arbeiten am DDR-Literaturprojekt mit den Worten: „Das Vorhaben ist für mich und gewiß auch andere Kollegen sehr ermunternd“. Gerd Bieker: Brief an Marianne Jacob, April 2021.
10 Auskunft: Herbert Jacob und Wolfgang Eckert.

Kurzporträt: Karl Sewart

Es gibt recht bemerkenswerte Beispiele dafür, wie ein gewöhnlicher Lehrer auch erfolgreicher Buchautor werden konnte; sind doch die Aufgabenbereiche von Pädagog:innen und Schriftsteller:innen teilweise durchaus überschneidend: Beide müssen recherchieren, beobachten, zuhören, vermitteln und erzählen können.

Auch unter den Absolvent:innen der Leipziger Autorenschule gab es Schreibende Lehrer oder Lehrer als Schriftsteller, wie beispielsweise Wolfgang Buschmann und Karl Sewart.

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Vortrag bei “Digital Humanities im Gespräch”

Im Rahmen der Vortragsreihe “Digital Humanities im Gespräch”, die vom Center für Digitale Systeme (CeDiS) und dem Dahlem Humanities Center der FU Berlin organisiert wird, stellten Steffen Martus und Jörn Kreutel den aktuellen Stand der Forschungsplattform vor.

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Porträt: Von Damaskus bis Leipzig – Adel Karasholi

Adel Karasholi – Moritzbastei Leipzig, Friedensmanifestation der Leipziger Künstlerverbände Herbst 1985[1]Weltnest – Literarisches Leben in Leipzig 1970 – 1990. Herausgeber: Peter Gosse, Helfried Strauß, Fotografien: Helfried Strauß. Mitteldeutscher Verlag: Halle 2007, S. 58. – Foto: © Helfried Strauß

Als einer von wenigen außereuropäischen Migrant:innen, die den Direktstudiengang am Institut für Literatur „Johannes R. Becher“ in Leipzig belegt haben, steht der Lyriker Adel Suleimann Karasholy (i. F. Adel Karasholi) für die Ausnahme. In der nicht deutschen Bevölkerung der DDR hingegen war er einer von vielen: sowohl neben Soldaten, Zivilangestellten und Angehörigen der in der DDR stationierten sowjetischen Streitkräfte als auch ausländischen Vertragsarbeiter:innen, politischen Emigrant:innen und Student:innen.[2]Vgl. Patrice G. Poutrus: Fremd im Bruderland. Vertragsarbeit und das Ende des Goldbroilers. In: Lydia Lierke; Massimo Perinelli (Hg.): Erinnern stören. Der Mauerfall aus migrantischer und jüdischer … Continue reading Karasholis und deren Perspektiven gingen in Folge der deutsch-deutschen Vereinigung, die als „deutsche Homogenisierungsgeschichte“[3]Lydika Lierke, Massimo Perinelli: Intro. In: Erinnern stören, S. 11-30, hier S. 18. geschrieben wurde, unter.

Gegen das Verdrängen ihrer Sichtweisen richten sich Sammelbände wie „Erinnern stören“.[4]Lydia Lierke; Massimo Perinelli (Hg.): Erinnern stören. Der Mauerfall aus migrantischer und jüdischer Perspektive. Berlin 2020. Dessen Herausgeber:innen betonen, wie wichtig es sei, in post-/migrantischen Erinnerungen eine „gemeinsame kollektive Geschichte im Persönlichen und Individuellen“ zu suchen und diese „im politisch verfassten Sprechen und Streiten“ freizulegen.[5]Vgl. Lierke, Perinelli: Intro, S. 17. Nachfolgend soll Adel Karasholis Leben und Werk unter diesem Credo bedacht sowie ein gesonderter Blick auf sein biobibliografisches Netzwerk und dessen Anknüpfungspunkte am Literaturinstitut „Johannes R. Becher“ geworfen werden.

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References

References
1 Weltnest – Literarisches Leben in Leipzig 1970 – 1990. Herausgeber: Peter Gosse, Helfried Strauß, Fotografien: Helfried Strauß. Mitteldeutscher Verlag: Halle 2007, S. 58.
2 Vgl. Patrice G. Poutrus: Fremd im Bruderland. Vertragsarbeit und das Ende des Goldbroilers. In: Lydia Lierke; Massimo Perinelli (Hg.): Erinnern stören. Der Mauerfall aus migrantischer und jüdischer Perspektive. Berlin 2020, S. 277-298, hier S. 284.
3 Lydika Lierke, Massimo Perinelli: Intro. In: Erinnern stören, S. 11-30, hier S. 18.
4 Lydia Lierke; Massimo Perinelli (Hg.): Erinnern stören. Der Mauerfall aus migrantischer und jüdischer Perspektive. Berlin 2020.
5 Vgl. Lierke, Perinelli: Intro, S. 17.

Kurzporträt: Egbert Lipowski

„‚Hast du schon darüber nachgedacht, dass wir eines Tages in ein Altenheim müssen?‘, fragte Marie Paul. ‚Wir müssen uns anmelden, die Plätze werden immer knapper und teurer. Alte Leute sind überflüssig.‘“[1]

Diese wenigen Zeilen (Fortsetzung s. unten) aus dem Kapitel „Die durchtanzte Nacht“ des als Manuskript vorliegenden Romans „Die überflüssigen Alten“ von Egbert Lipowski zeigen bereits, wie sich der Autor in seinem aktuellen literarischen Schaffen der Problematik des Älterwerdens, Altseins und der Nichtreflexion des Themas in der Öffentlichkeit widmet.

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Arne Born: „Literaturgeschichte der deutschen Einheit 1989–2000. Fremdheit zwischen Ost und West“

Wie werden der Umbruch 1989/90, die „Wende“, und der folgende deutsch-deutsche Vereinigungsprozess in der Literatur reflektiert? Das ist die Frage von Arne Borns „Literaturgeschichte der deutschen Einheit 1989–2000“. Steffen Martus brachte sie in seiner Rezension in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ in die Form eines „Gedankenexperimentes“: „Wie würde die Vergangenheit aussehen, wenn uns als Quellen nur Texte von Schriftstellern zur Verfügung stünden?“[1]Steffen Martus: Ein Blick über den Raubtiergraben, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.11.2019, S. 10 Borns Antwort: Die Literatur erzählt eine Geschichte der „Fremdheit zwischen Ost und West“. In 74 Einzelanalysen zeichnet er diese Fremdheitserfahrungen nach: von Volker Braun und Thomas Brussig, Günter Grass und Jan Groh über Monika Maron und Heiner Müller, Thomas Rosenlöcher und Peter Rühmkorf bis Bernd Wagner und Christa Wolf. Born fragt zum einen: Welches Bild von der „deutschen Wiedervereinigung“ vermittelt die Literatur? Zum zweiten: Wie prägte sie in den damaligen Debatten dieses Bild mit? Reproduziert und verstetigt sie die Fremdheitsmuster oder gelingt es ihr, diese bewusst zu machen und aufzubrechen? Borns „literaturhistorische Mentalitätsgeschichte“ vergegenwärtigt luzide die Ost-West-Debatten der 1990er Jahre. Sie zeigt, wie wechselseitige Fremdheitserfahrungen und Ost-West-Stereotype die Wahrnehmung der Konflikte und Verwerfungen des Vereinigungsprozesses prägten und bis heute fortwirken.

Borns „Literaturgeschichte der deutschen Einheit 1989–2000. Fremdheit zwischen Ost und West“, 2019 im Wehrhahn Verlag erschienen, wurde jetzt vom Verlag Sol et Chant als Studienausgabe neu herausgebracht.

Arne Born: Literaturgeschichte der deutschen Einheit 1989-2000. Fremdheit zwischen Ost und West. Sol et Chant: Letschin 2022, 656 Seiten, 26,00 Euro.
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References

References
1 Steffen Martus: Ein Blick über den Raubtiergraben, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.11.2019, S. 10

Literatur in der SBZ/DDR. Bibliographische Annalen 1945–1990

Als eine zentrale Quelle für Veröffentlichungen von Autor*innen in der DDR nutzen wir im Projekt die „Bibliographischen Annalen“ zur Literatur in der SBZ/DDR. Diese verzeichnen mit dem Anspruch der Vollständigkeit die in der SBZ/DDR von 1945 bis 1990 veröffentlichte belletristische Literatur, einschließlich literarischer und kultureller Zeitschriften sowie ausgewählter literaturwissenschaftlicher Arbeiten. Die „Annalen“ wurden Ende der 1970er Jahre von einer Arbeitsgruppe am Zentralinstitut für Literaturgeschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR unter der Leitung von Herbert Jacob begonnen und nach 1990 an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften fortgeführt. 2021 erschien die neue Ausgabe bei de Gruyter: rund 44.000 Titel aus fünfundvierzig Jahren, jahresweise nach Gattungen geordnet, in sechs Bänden mit knapp viertausend Seiten, dazu zwei Registerbände.

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(Netzwerk-)Visualisierungen als biographische Sinnstiftung

Präsentation auf der Jahrestagung des Forschungsschwerpunkts digitale_Kultur “Digitale Hermeneutik: Maschinen, Verfahren, Sinn”, am 29. Juni 2022 an der FernUniversität in Hagen

Wie lassen sich mit “Visualisierung[en] komplexer Datenstrukturen neue erkenntnisleitende Ziele und Fragen”[1]Almut Leh, Eva Ochs: Digital Humanities und biographische Forschung. Positionsbestimmungen und Analysen, in: BIOS. Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen 30. … Continue reading generieren? Auf der Jahrestagung des Forschungsschwerpunkts digitale_KulturDigitale Hermeneutik: Maschinen, Verfahren, Sinn” an der FernUniversität in Hagen stellten Jörn Kreutel und Thomas Möbius vor, wie auf der Forschungsplattform Visualisierungen als Mittel für biographische Darstellungen eingesetzt werden können und welche Sinnstiftungen sie für die betrachteten Biographien implizieren. Im Zentrum stand zum einen die Frage, was Visualisierungen auf den ersten Blick zu zeigen imstande sind, was sie verbergen und wie ggf. das Verborgene durch die Nutzer*innen einer Visualisierungsoberfläche zugänglich gemacht werden kann. Zum zweiten ging es darum, wie im Blick auf die zugrunde liegenden Quellen biographische Narrative dekonstruiert und Selektionen transparent gemacht werden können.

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References

References
1 Almut Leh, Eva Ochs: Digital Humanities und biographische Forschung. Positionsbestimmungen und Analysen, in: BIOS. Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen 30. Jg. (2017), Heft 1/2: Digital Humanities und biographische Forschung, S. 3-6, hier: S. 4