„‚Hast du schon darüber nachgedacht, dass wir eines Tages in ein Altenheim müssen?‘, fragte Marie Paul. ‚Wir müssen uns anmelden, die Plätze werden immer knapper und teurer. Alte Leute sind überflüssig.‘“[1]
Diese wenigen Zeilen (Fortsetzung s. unten) aus dem Kapitel „Die durchtanzte Nacht“ des als Manuskript vorliegenden Romans „Die überflüssigen Alten“ von Egbert Lipowski zeigen bereits, wie sich der Autor in seinem aktuellen literarischen Schaffen der Problematik des Älterwerdens, Altseins und der Nichtreflexion des Themas in der Öffentlichkeit widmet.
Wer ist eigentlich Egbert Lipowski, der – neben Friedrich Blass (†) – im Rahmen der Forschungsarbeiten zu meinem erstinterviewten Absolvent*innen des Leipziger Literaturinstitutes gehörte?
Egbert Josef Lipowski wurde 1943 als Bauernsohn in Ostpreußen geboren. Er erlernte den Beruf eines Maschinenschlossers. Den anschließenden Schauspielunterricht an der Staatlichen Schauspielschule in Berlin brach er ab und arbeitete in den unterschiedlichsten Berufen.[2] Bekannt mit Bobrowski, Kunert und Delius, die ihn zum Schreiben anregten, bewarb er sich schließlich zum Studium am Leipziger Institut Johannes R. Becher.[3] Zu seinen Mitstudierenden gehörten u.a. Ulrich Berkes, Klaus Bourquain, Horst Matthies und Roland Neumann. Prägende Dozenten waren Kurt Kanzog und Georg Maurer.
Als Lipowski im Studienjahr 1968 einigen Kommiliton*innen und Dozent*innen gegenüber zu verstehen gab, „wie viel Hoffnung er auf den Prager Frühling setzte, ließ ihn der Direktor des Instituts wissen, dass er auf einem Vulkan tanzen würde“.[4] Seine politische Einstellung brachte ihm mehrere Wochen Hausverbot ein. Mit einer kleinen literarischen Würdigung der wissenschaftlichen und philosophischen Leistung von Karl Marx rehabilitierte sich Lipowski „bei den SED-Ideologen des Instituts und entging ganz knapp der Exmatrikulation“.[5] Geichzeitig erinnerte er sich an „Bobrowski und Kunert, die ihn vor dem Leipziger Institut und ihren Lehrkräften gewarnt hatten“.[6] „In nicht wenigen Konfliktsituationen fand ich abends in Andachten und Konzerten in der nahe gelegenen Thomaskirche zu meiner Balance zurück“, erinnerte er sich. „Ja, wie unwichtig, klein und erlässlich wurde mir da manch vordergründiges Institutsgelehrtes, Schulvermitteltes und Schulbedrückendes. Und Ideologisches schon immer. Auch der viel zu enge sogenannte sozialistische Realismus.“[7] Für ihn befreiend war dann die Abschlussarbeit des Literaturstudiums, in der er über Isaak Babels Erzählweise reflektieren durfte.
Nach dem Studium wurde Lipowski 1971 Aspirant an der Hochschule für Film und Fernsehen in Babelsberg, sp. Dramaturg;[8] neben seiner Lehrtätigkeit beschäftigte er sich mit Fernsehreportagen für Kinder sowie mit Spielfilmprojekten.[9] Egbert Lipowski berichtete mir von seinem literarischen Vorhaben im Jahre 1985: „Ein Romanmanuskript über die Abschaffung des Staatssicherheitsdienstes in der DDR wurde in einem Verlagsgespräch […] als naiver gefährlicher Blödsinn bezeichnet, was mich derart ängstigte […], dass ich […] danach versuchte, ein genehmer Autor zu werden“.[10] Er verfasste 1989 den bemerkenswerten Roman „Küchenlabor“, der durch die aufregende Wende- und Umbruchzeit zu Unrecht fast unbemerkt blieb. Gegenwärtig arbeitet der Autor an einer Prosaarbeit „Therapie eines Esels“, in der es „um die Arbeitslosigkeit, in die nach der Wende Hunderttausende Ostdeutsche gestürzt wurden“,[11] geht.
„Paul ging am nächsten Tag zum Hausarzt, um sich und Marie ein hilfreiches Schlafmittel verschreiben zu lassen, weil Marie behauptete, dass ihr und sein zunehmend schwächeres Gedächtnis von zu wenig Schlaf käme.
‚Hat man denn so viel Schlaf nötig, wenn man nicht mehr arbeitet?‘ fragte der Arzt mit spöttischem Lächeln im Gesicht. ‚Nehmen Sie mich: Ich könnte Tag und Nacht schlafen, weil ich überarbeitet bin. Mein ganzer Warteraum ist voller Arbeit.‘
Arschloch! dachte Paul. Altern ist Arbeit. Sogar schwere Arbeit. Aus schwerer Arbeit wird Schwerstarbeit!
Rausgeschmissenes Geld, sagte sich der Arzt beim Drucken des Rezeptes. Aber im Kapitalismus produziert rausgeschmissenes Geld neues Geld.“[12]
Von Marianne Jacob
[1] Egbert Lipowski: Ausz. aus: Die überflüssigen Alten. Roman. Kapitel: Die durchtanzte Nacht. Mit freundlicher Genehmigung von Egbert Lipowski.
[2] Egbert Lipowski: Fragebogenauskunft an Marianne Jacob.
[3] Egbert Lipowski: Interview mit Marianne Jacob in Michendorf 2022.
[4] Ebd.
[5] Ebd.
[6] Ebd.
[7] Ebd.
[8] Ebd.
[9] Egbert Lipowski: Lebenslauf (Ungedr., zur Kenntnisnahme für M. Jacob).
[10] Ebd.
[11] Egbert Lipowski: Brief an Marianne Jacob v. 12. Januar 2022. Mit freundlicher Genehmigung von E. Lipowski.
[12] Egbert Lipowski: Ausz. aus: Die überflüssigen Alten. Roman. Kapitel: Die durchtanzte Nacht. Mit freundlicher Genehmigung von Egbert Lipowski.