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Kurzporträt: Kerstin Hensel

Kerstin Hensel, geboren 1961 in Karl-Marx-Stadt (bis 1953 Chemnitz), studierte von 1983 bis 1985 am Institut für Literatur „Johannes R. Becher“, zunächst im Fern-, dann im Direktstudium. Die bei Studienbeginn erst 22-Jährige und damit jüngste Studentin in der Geschichte des Instituts hatte zuvor als chirurgische Schwester gearbeitet. Sie stammte aus einer Arbeiterfamilie und hatte Gedichte an die „Poetensprechstunde“, eine Rubrik der Zeitung „Junge Welt“, geschickt, woraufhin die junge Frau an den Zirkel Schreibender Arbeiter im Karl-Marx-Städter Werkzeugmaschinenkombinat Fritz Heckert verwiesen worden war. Dessen Leiterin Gabriele Berthel (selbst von 1981 bis 1984 Fernstudentin am Literaturinstitut) ermutigte sie zur Bewerbung. Für Hensel eröffnete sich damit ein Weg, auch ohne Abitur ein Studium aufnehmen zu können, als erste ihrer Familie.

Als eine der wenigen Studentinnen in der Institutsgeschichte absolvierte sie das Direktstudium mit Kind und teilte währenddessen die Plagwitzer Fünf-Zimmer-Erdgeschosswohnung des Instituts mit 14 Kommiliton*innen. Wichtigster Effekt des Studiums war ihr die Erschließung eines literaturgeschichtlichen Horizonts, die Schulung des ästhetischen Urteils und die nur in der Großstadt Leipzig möglichen Kontakte zu bildenden Künstler*innen und Komponist*innen.[1]Alle folgenden Informationen beruhen auf Auskünften, die Kerstin Hensel während ihres Besuchs in dem von Birgit Dahlke geleiteten Projekt-Seminar am 7.1.2020 gab. Wir danken der Autorin für … Continue reading Neben den Seminaren erweiterten Vorlesungen von Gastdozent*innen zur Kunstgeschichte, Musik, Psychologie und Kriminalistik ihr Weltbild nachhaltig. Im Fach Sowjetliteratur wurden um 1983 aufregende Texte des Aufbruchs gelesen, von deren Existenz sie wie die meisten Studierenden nichts geahnt hatte: solche von Aitmatow, Tendrjakow, Achmatowa, Mandelstam, Okudshawa, Pasternak, Rasputin, Schwarz, Schukschin oder Zwetajewa. Bei Gerhard Rothbauer und ihrem Mentor Peter Gosse[2]Gosse wurde ihr Mentor, weil die Beziehung zum ursprünglich zugeordneten Mentor Hans Pfeiffer nicht funktioniert hatte. Der Dramatiker und Kriminalschriftsteller Pfeiffer unterrichtete das … Continue reading habe sie etwas gelernt, das in keinem Curriculum steht: Widerständigkeit – selbstständig zu urteilen und zum eigenen Urteil zu stehen.[3]In Hensels Vorlass befindet sich ein langjähriger Briefwechsel mit Rothbauer. Archiv der Akademie der Künste – AdK, Berlin, Akademie der Künste (Ost). Kerstin-Hensel-Archiv, Signatur 83 und 106.

Als einschneidende Erfahrung schildert Hensel das achtwöchige Praktikum im schon erwähnten Braunkohlen-Tagebau Regis-Breitingen. Aufgrund ihrer Schwangerschaft war die Studentin, statt direkt in die Kohleförderung zu kommen, der Betriebsärztin zugeordnet worden. Die junge Autorin befragte die Ärztin nach (offiziell nicht zugänglichen) Daten über Erkrankungen und Sterblichkeitsraten im Tagebau-Umkreis und erhielt Antwort. Angesichts eines nach wie vor fehlenden öffentlichen Diskurses über umweltschädliche Folgen des Braunkohleabbaus waren dies brisante Informationen. Das Porträt, das Hensel im Ergebnis ihres Praktikums wie alle anderen zu schreiben hatte, wurde zum Abschluss im Kulturhaus des Betriebs vorgestellt. Entgegen den Erwartungen der Studierenden reagierten die Betriebsangehörigen auf die kritisch-realistische Darstellung der Verhältnisse jedoch einhellig mit Abwehr. Weder von den Umwelt- und Gesundheitsschäden noch vom hoffnungslos überalterten Maschinenpark wollten sie etwas hören, erinnert sich die Autorin. Im Institut selbst stießen die Porträts der Praktikant*innen auf ein geteiltes Echo. Ihr auf dem Porträt basierendes Hörspiel „Anspann“ lief 1985 immerhin im Rundfunk der DDR.

Hensels als Abschlussarbeit anerkannte erste Publikation, das „Poesiealbum“ (1986), und noch mehr ihr Debütband „Stilleben mit Zukunft. Gedichte“ (1986) wurde als Indikator eines sozialen und mentalitäts-geschichtlichen Wandels aufgenommen. Anders als die Texte vieler Gleichaltriger scheiterten sie nicht an der Zensur, sodass die 25-Jährige eine der wenigen Autorinnen war, deren Literatur zeitgleich sowohl offiziell als auch inoffiziell in der DDR erschien.[4]Texte von ihr erschienen sowohl in den unabhängigen Kleinstzeitschriften „Bizarre Städte“ 2/1988 und 4/1989 und „A3-Kontakte“ 1/1986 und 2/1986 als auch in den offiziell publizierten … Continue reading Im (von ihren Dozenten äußerst kritisch bewerteten) essayistischen Teil ihrer Abschlussarbeit nahm sie 1985 J. R. Bechers „Aufstand im Menschen“ zum Anlass, sich mit Heiner Müller auseinander zu setzen. Der literarische Teil enthielt Gedichte, welche den literaturgeschichtlich tradierten Gestus jugendlichen Aufbegehrens für die eigene Generation als folgenlose Pose karikierten:

„Vom Liegen auf Häuten
Wir liegen ausgestreckt auf unseren Häuten.
Geflickt und starr hängt über uns der Wald.
Und zehrend, unersättlich von den Beuten,
die wir nicht trafen, nehmen wir Gestalt
von großen Tieren an, wie zäher Rauch.
Es bleibt der letzte Pfeil im Köcher.
Wir drehen uns, weil der Arsch brennt, auf den Bauch:
die dünnen Stellen sind noch keine Löcher.“[5]Kerstin Hensel: Vom Liegen auf Häuten, in: O.T. Künstlerische Abschlussarbeit am Literaturinstitut, 1985 (unveröff., o.O.). Zitiert nach Isabelle Lehn; Sascha Macht; Katja Stopka: Schreiben lernen … Continue reading

Der „Himmel über uns“, für Vorgänger-Generationen Metapher der Weltaneignung, ist in ihren Gedichten nur noch „geronnen“, „verkäste Hoffnung mit (…) Blauschimmel“.

Aus dem Jahr 2004 zurück auf die Studienzeit in Leipzig blickend, resümierte die Autorin: „In der Radier- oder Holzschnittwerkstatt sitzend, nahmen wir uns das Recht, zu spinnen, zu schaffen, was wir wollten: ohne Angst, an allen Dummköpfen vorbei.“[6]Kerstin Hensel: Canale Nostalgia (2004), in: Nachdenken über Leipzig. Essays. Hg. von Thomas Mayer. Leipzig 2006, S. 18–21.

Von Birgit Dahlke

References

References
1 Alle folgenden Informationen beruhen auf Auskünften, die Kerstin Hensel während ihres Besuchs in dem von Birgit Dahlke geleiteten Projekt-Seminar am 7.1.2020 gab. Wir danken der Autorin für detaillierte Informationen und Daria Kolesova für die Audio-Dokumentation des Gesprächs.
2 Gosse wurde ihr Mentor, weil die Beziehung zum ursprünglich zugeordneten Mentor Hans Pfeiffer nicht funktioniert hatte. Der Dramatiker und Kriminalschriftsteller Pfeiffer unterrichtete das Dramatik-Seminar und wurde 1985 Direktor des Literaturinstituts.
3 In Hensels Vorlass befindet sich ein langjähriger Briefwechsel mit Rothbauer. Archiv der Akademie der Künste – AdK, Berlin, Akademie der Künste (Ost). Kerstin-Hensel-Archiv, Signatur 83 und 106.
4 Texte von ihr erschienen sowohl in den unabhängigen Kleinstzeitschriften „Bizarre Städte“ 2/1988 und 4/1989 und „A3-Kontakte“ 1/1986 und 2/1986 als auch in den offiziell publizierten Zeitschriften „Temperamente“, „Neue Deutsche Literatur“ und „Sinn und Form“.
5 Kerstin Hensel: Vom Liegen auf Häuten, in: O.T. Künstlerische Abschlussarbeit am Literaturinstitut, 1985 (unveröff., o.O.). Zitiert nach Isabelle Lehn; Sascha Macht; Katja Stopka: Schreiben lernen im Sozialismus. Das Institut für Literatur Johannes R. Becher. Göttingen 2018, S. 516.
6 Kerstin Hensel: Canale Nostalgia (2004), in: Nachdenken über Leipzig. Essays. Hg. von Thomas Mayer. Leipzig 2006, S. 18–21.